PDF: Vom Pferd zum Automobil – 1880 bis 1930: Zwei Geschichten, eine Innovation
Mein 1897 geborener Grossvater Heinrich Jundt wächst in einem Vorort Basels als jüngster von drei Brüdern auf. Er wird zum Autonarr und Berufschauffeur. Mit 30 Jahren fährt er den abgebildeten Fiat 503 durch die malerische Axenstrasse am Vierwaldstättersee. Im gleichen Sommer 1927 schirrt sein drei Jahre älterer Bruder Fritz wie jeden Morgen sein Gespann ein. Er ist als Fuhrmann in einem Baugeschäft tätig. Zwei zeitgleiche Schicksale, zwei parallele Welten über Jahrzehnte! Das ist das Thema dieses Bandes aus europäischer Perspektive. Wer steht hinter dem Wandel vom Pferde- zum Motorwagen, was bedeutete dies damals für die Menschen? Solche Fragen beschäftigten mich seit dem Jahr 1981, als ich als Archäologe unerwartet für das Historische Museum Basel ein Kutschenmuseum in Brüglingen einzurichten hatte. Als Vorbereitung dafür konnte ich damals auf die Hilfe von namhaften Basler Karossiers wie Alfred Heimburger und Alfred Kölz sowie Walter Köng zählen, die den Übergang vom Pferd zum Automobil noch selbst erlebt hatten. Sie waren alle in Paris zur Weiterbildung gewesen, Köng hatte sogar die Entwurfsabteilung von Gallée geleitet und bei Chrysler und Packard in den USA gearbeitet. Solche Gespräche mit Zeitzeugen und die Sichtung ihrer Dokumente hinterliessen einen bleibenden Eindruck, der mich mit zu diesem jetzt fertigen Projekt veranlasste. Nicht vergessen ist, wie Walter Köng lebhaft erklärte, er habe sein Formempfinden bei seinem Vater in der Wagnerlehre geschärft, und zwar bei der Fertigung von hölzernen Speichen mit dem Ziehmesser. Denn es galt, „den Spiegel“ harmonisch herauszuarbeiten, die plane Vorderseite der Speichen in der unteren Hälfte.
Heute erleben wir wieder einen Umbruch, den Wandel vom konventionell konstruierten Automobil mit Verbrennungsmotor hin zum batteriegetriebenen, computergesteuerten und vernetzten Elektrofahrzeug. Deshalb rücken ähnlich tiefgreifende Umbrüche der jüngeren Vergangenheit wieder vermehrt ins Bewusstsein. Ein zweiter Wechsel findet heute ebenfalls – wieder nach 100 Jahren – statt, aber in umgekehrter Richtung. 1920 hatte die Strasse ihren alten Status als Lebensader aller zugunsten einer Durchgangsschneise für die schnellsten Verkehrsteilnehmer weitgehend verloren. Dies wird heute in den Städten mehr und mehr rückgängig gemacht, die Strassen dem Langsamverkehr zurückgegeben. Langsamkeit versus Schnelligkeit? Der Siegeszug des Automobils hat viel mit diesem Thema zu tun, das hier im grösseren kulturgeschichtlichen Kontext behandelt wird. Dazu gehört die Auswertung von historischen Bild- und Textquellen, vor allem von Originalzitaten aus der Zeit. Damit werden Stimmungsbilder beider Seiten ausgeleuchtet.