Andres Furger: Das Bild der Seele - Im Spiegel der Jahrtausende

PDF: Das Bild der Seele – Im Spiegel der Jahrtausende

Hier steht die Seele in der Kulturgeschichte Europas im Zentrum. Prägende kulturelle Grundlage des «christlichen Abendlandes» sind die griechische und römische Antike sowie das frühe Christentum mit der Bibel. Für das Wort Seele werden dort hauptsächlich die drei Begriffe psyché, anima und ruach verwendet, die alle im wörtlichen Sinne «Hauch» bedeuten. Die Seele ist in den meisten Kulturen unsterblich; haucht der Mensch bei seinem Tod seine Seele aus, dann geht sie in die Ewigkeit zurück. 

Ausgangspunkt jeder kulturhistorischen Darstellung ist der heutige Standpunkt zum behandelten Thema. Damit ist der grosse Kontrast des aktuellen Seelenbildes zu demjenigen der älteren Zeiten angesprochen. Die derzeitigen Vorstellungen der Seele befinden sich im Stadium des Umbruchs, sind von Dynamik und auch von Widersprüchlichkeiten geprägt. Dazu ein Beispiel. Heute glaubt nach den S. 176 referierten Erhebungen ein Fünftel der Christen in Europa an die Reinkarnationslehre. Damit ist ein theologischer Widerspruch verbunden, denn an sich geht das Christentum von der Einheit von Seele und Körper aus. – Die religiöse Grundlage der Bibel gibt allgemein gesehen dem bildhaften Seelenentwurf, wie noch gezeigt werden wird, weniger Konturen als andere religiöse Bewegungen. Dazu kommt ein Verblassen unseres Seelenbildes im Rahmen des Schwindens von inneren Kräften der Religionen und unseres «tragfähigen Wissens». Der enorme Fortschritt an allgemein anerkanntem wissenschaftlichem Wissen ist nicht in der gleichen Kadenz einhergegangen mit der Entwicklung eines allgemein an erkannten existenztragenden Wissens. Vorbei sind die Zeiten, wo Bibliotheken als «Heilstätte für die Seele» (psychelés iatreion) bezeichnet werden konnten, wie über dem Eingang zur bekannten barocken Stiftsbibliothek von Sankt Gallen. (…)